Donnerstag, 20. Juni 2013

Sgt. Peters und die Sonne


Bei dem Geruch musste er spielen gehen. Wenn die Sonne auf den Asphalt schien und es pulvrig und warm in die Nase stieg. Die Sonne vergrößert alles. Sie macht aus Steinen Landschaften, aus Pfützen Meere, aus Moos einen Dschungel für Sergeant Peters. Er war genau ein Jahr zu alt, um so zu spielen. Vor einem Jahr hatten seine Freunde aufgehört, am Boden liegend Figuren zu verschieben, Spucke zu versprühen, wenn sie die Geräusche von Explosionen imitierten, mit verstellter Stimme Befehle zu bellen und einen ewigen Krieg zu führen. Aber heute war ihm das egal. Heute war Sonne. 
Franz holte sein Rad aus der Garage.
„Ich geh spielen“, rief er und stemmte sich in die Pedale, bevor ein Spruch seiner Mutter ihn erreichen konnte. Sie würde lachen, genau wie seine Freunde, wenn sie wüsste, dass er Sergeant Peters und die anderen in der Hosentasche hatte. Aber bei diesem Wetter! Der Frühling weckte das Abenteuer. Wenn die Sonne die Räume dehnte, wenn der Schall wuchs und das Zwitschern der Vögel klarer in der Luft stand als sonst, wenn sich das Hämmern im Nachbargarten mit gemeißeltem Nachhall durch die warme Luft bohrte, dann drängte sich auch die Stimme von Sergeant Peters in Franz Fantasie. 
Er fuhr zum Steinbruch. Da ging man hin, wenn man allein sein wollte. Franz wusste, dass Horst dort rauchte, mit seinen Freunden. Aber heute arbeitete Horst, heute konnte man dort ungestört spielen. Auf einem Teppich aus Wärme, Blütenfarbe, gemähtem Gras und Zugluft radelte er an den Vorgärten vorbei. Über die Felder. Durch den Wald. Und zum Steinbruch. Er versuchte eine Vollbremsung im Schotter. Staub wirbelte in eine aufgeschürfte Wade. Franz sah sich um, beschämt. Aber niemand war da.
Er fand schnell eine Stelle im prallen Sonnenlicht, wo die Soldaten lagern konnten. Zwölf Männer aus grünem Plastik, zweimarkstückgroß. Und Sergeant Peters, als einziger in der Farbe von Sand. Wie der brüchige Fels des Steinbruchs. Das Dutzend plus Einen, wie sie sich nannten, hatte Stellung bezogen in einem Spalt. Er klaffte nach hinten in eine dunkle und unerforschte Höhle. Am Rand Vegetation. Hier war meterhohes Gras, scharf wie Macheten. Peters zwang George, einen Weg hindurch zu schlagen, damit sie einen Fluchtweg hatten. George kam verletzt zurück, vom Gras geschnitten. Natürlich konnte der Sergeant die Wunde verbinden und George blieb einsatzbereit. 
„Die Höhle erforschen wir später“, sagte Peters. „Zunächst müssen wir herausfinden, wo der Feind ist.“ Er teilte die Mannschaft in drei Gruppen ein. Eine bewachte das Lager, zwei schwärmten aus. Peters ging alleine, in die Richtung, wo der Feind am ehesten war. Er wusste, dass er die besten Chancen hatte, unentdeckt zu bleiben, wenn er die anderen zurück ließ. Keiner konnte schleichen wie er. 
Etwas krachte. Franz erschrak. Er sah sich um und sah niemanden. Auch dieses Geräusch wurde von der Sonne vergrößert und schien ihm noch immer nachzuhallen, in der warmen Stille. Wahrscheinlich wurde im Wald oben gearbeitet. 
Sergeant Peters hatte die Explosion gehört. Die sprengten etwas. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder sie suchten nach Gold oder sie versuchten, die Höhle zum Einsturz zu bringen, vor der die Zwölf plus Einen lagerten. Rasch kehrte er um. Die zurückgebliebenen Männer waren in heller Aufregung. Auch sie hatten den Krach vernommen.
„Wenn sie die Höhle sprengen wollen, müssen sie sich an einem anderen Zugang dazu befinden“, erklärte der Sergeant. „Das heißt, dass wir ihnen zuvor kommen können. Wir sprengen selbst. Wenn die Höhle von hier aus zusammenbricht, reißt sie vielleicht unseren Feind in den Tod.“ Und sie platzierten ihr Dynamit und die Fernzünder. Es war gefährlich, denn sie konnten einen Erdrutsch auslösen, der sie mitriss. Peters ging das Risiko ein. Wenn sie den Feind damit erwischten, war es das wert. Das Dynamit war extrem stark. Das Donnern der Explosionen ließ die Ohren klingeln. Wieder und wieder krachten Teile der Höhle zusammen, größer und größer wurde die Verheerung. 
„Was machst du da?“
Franz fuhr herum. Den Stock, mit dem er die Felsspalte bearbeitet hatte, warf er fort. „Nichts.“
Ein Mädchen stand ihm gegenüber. Die dunklen Haare voller Staub. Auf den schmutzigen Händen Spuren von Rinnsalen, wo Wasser oder Schweiß gelaufen war. Wie die Gänge von Holzwürmern in verwittertem Holz. Sie trug ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt. 
„Du machst den Berg kaputt.“
„Sergeant Peters sprengt die Höhle. Das muss so.“
„Und wenn der Steinbruch zusammenkracht?“
„Quatsch. Den kriege ich nicht kaputt.“
„Wer ist Sergeant Peters?“
Franz zeigte ihr seine Soldaten. Sie setzten sich nebeneinander in den Schotter, die Rücken an die steile Wand des Steinbruchs gelehnt.
„Wieso hat der da keinen Kopf?“, fragte sie. 
„Er hat ihn in einer Schlacht verloren. Aber Peters hat seinen Körper gerettet. John kann nicht mehr denken, aber er kann noch Befehle befolgen.“
„Wie mein Bruder.“
„Wie heißt du?“
„Margit.“
„Was machst du hier?“
Margit stand auf und holte den Stock, den Franz fortgeworfen hatte. Sie fing an, in der Höhle zu stochern, wie vorher Franz.
„Ich dachte, dann bricht der Steinbruch zusammen“, sagte Franz.
„Soll er doch.“
„Und wir?“
„Mir egal.“ 
Franz holte einen zweiten Stock und half ihr. Sie hackten und bohrten und stocherten, bis das Loch groß genug für einen Hasen war. Franz sah jetzt auch auf seinen eigenen Händen Striemen von Schweiß im Staub. 
„Was kommt da rein?“, fragte Franz.
„Wir. Unsere Leichen.“
„Quatsch.“
„Manchmal wär ich gerne tot“, sagte Margit. 
Franz nahm sie in den Arm. Sie brauchte Trost. Der Geruch von Metall und Staub stieg aus ihren Haaren. Von der harten Arbeit und der Sonne war ihre Haut heiß. Franz dachte an eine Motorhaube nach langer Fahrt. 
„Wir müssen in den Schatten gehen“, sagte er. „Hast du hier überhaupt was zu trinken?“ Er hatte selbst nichts mitgenommen. Sie schüttelte den Kopf. „Wie lange bist du denn schon hier?“, fragte er.
„Seit gestern.“
„Wo hast du geschlafen?“
Sie zeigte auf eine verfallene Hütte, die zum Steinbruch gehörte. 
„Hast du ein Fahrrad?“ 
Wieder schüttelte sie mit dem Kopf.
„Kannst auf meinem Gepäckträger fahren.“
Sie fuhren zu ihm nach Hause. Seine Mutter war einkaufen. Er versorgte Margit mit Orangenlimonade aus dem Kühlschrank. 
„Du musst was Kühles trinken“, sagte er. „Du bist überhitzt.“ Er fühlte sich wie der Sergeant. Er rettete die Entführte. Er versorgte ein Opfer des Krieges.
Sie saßen in der Hollywoodschaukel und ließen die Beine baumeln. Wieder machte die Sonne das Leben groß und bedeutsam und Margits Hand in seiner war eine Welt. Da war ein spitzer Dorn am Rand ihres Zeigefingernagels. Da war eine Schicht aus trockener Erde auf dem Handrücken, die sich krümelnd verabschiedete, wenn Franz mit seinen Fingern darüber strich. Da war ein warmer Dunst innen, der sich in den Linien beider Handflächen - ihrer und seiner - verfing. Glatt wie Marmor aber warm wie ein Mund waren die Seitenränder ihrer Finger, die sich an die Seitenrändern seiner Finger schmiegten. 
Er wollte sie küssen. Der Gedanke war wie ein Schreck. Eben noch hatten sie gespielt. Und auf einmal ging es um Liebe. Sein Magen aus Eis. Sich trauen. Sie küssen. Noch wartete er. Gleich aber. Ein Kuss. Ein Schleier, wie kalte Milch, in seinem Bauch und in seinem Verstand. Ich werde dich küssen, formte sein Geist die Worte, mit denen er sie warnen würde. Ich werde dich küssen.

Die Tür. Ein Ruf. Seine Mutter war da. 
Später kamen Polizisten. Sie nahmen Margit mit.

Den ganzen Sommer fuhr er zum Steinbruch, in der Hoffnung sie wieder zu sehen. Er spielte nicht mehr mit Sergeant Peters, das kam ihm kindisch vor. Den ganzen Sommer über dachte er daran, was gewesen wäre, wenn er sich eine Minute früher entschlossen hätte, sie zu küssen. Sie wusste, wo er wohnte. Vielleicht wäre sie gekommen, hätte er sie nur geküsst. Den ganzen Sommer über schien die Sonne und machte alles groß. Den ganzen Sommer über war er verliebt.

Donnerstag, 14. Februar 2013

Montagsjazz: My Name Is...


Das einzige, was heute abend tanzte, war der Staub unter den abgewetzten roten Sesseln, von den Schallwellen zum Hüpfen gebracht. Montags war nie viel los, in dem kleinen Jazzclub. Aber heute hatte die Montagsflaute ihren Tiefpunkt erreicht. Hinter der Bar stützte Resa ihren runden, blondgelockten Kopf auf die Hände. Ihre kugeligen Brüste dehnten das Feinripp eines weißen Unterhemds. Eine Sternstunde des Sexappeals, die genauso unbeachtet blieb, wie die Musik. In dem Tonstudio zwei Straßen weiter war wahrscheinlich mehr Stimmung als hier. Da, wo sie manchmal sogar richtig große Namen produzierten.
Auf der Bühne ein stinkender Teppich, der das Schlagzeug am Rutschen hindern sollte. Ein Wald aus glänzendem Gestänge: Teile des Drumsets, Notenhalter, Mikrofonständer, höhenverstellbare Hocker. Flügelschrauben, verchromte Gelenke, Gummifüße. Am Boden eine Schlangengrube aus schwarzen Kabeln, tausendfach von biernassen Schuhsohlen getreten. Vier Kerle da oben, tiefenentspannt. Rolf am Schlagzeug, Christoph am Saxofon, Steve am Bass und Stefan am Piano.
„Komm spiel heute ein Schlagzeugsolo“, sagte Christoph, um Rolf zu ärgern.
„Schlagzeug ist kein Soloinstrument“, sagte Rolf zum hundertsten Mal, ohne Melodie in der Stimme und durch zusammengebissene Zähne. „Meinetwegen ein paar Fours. Aber das wars.“ Nie wollte er Soli spielen. Rolf im weinroten Pullover. Rolf, der, auch wenn er rasiert war, einen grauen Bartschatten hatte, grau wie ein Stück Recyclingpapier. Rolf ohne Humor. 
Eine Nummer hatten sie schon gespielt, nach langem Warten. Irgendwann hatte Resa sie aufgefordert, anzufangen. Kippe im Mund hatte sie Bier gebracht und im Weggehen gesagt: „Und jetzt wird mal Musik gemacht.“ Oberste Coolnessregel für Musiker: immer so tun, als wolle man nicht spielen. Sich bitten lassen. Zeit lassen.
Aber jetzt das zweite Stück. Christoph war der Leader, ganz klar, schnippte den Rhythmus vor und dann bliesen sie den Watermelon Man. Christophs Hemd drei Knöpfe offen. Blitzende Uhr am Handgelenk. Das Publikum ignorierte sie. Das Publikum bestand aus vier amerikanischen College-Studenten, unter 21, in Deutschland berechtigt, Alkohol zu kaufen. Aus Horst, jeden Abend hier seit 1978, Gehirn in dieser Zeit in einer Bierflasche liegen gelassen. Und aus einer ungefähren Handvoll Musiker, genaue Anzahl schwankend um kommende und gehende Kompagnons und Freundinnen, positioniert am Stammplatz links vor der Bühne. Die warteten auf die Jam-Session. Wenn sie denn später spielen würden, unklar, Coolness-Regel. 
Auch wenn keiner guckte, gehört wurde es doch, und daher musste man oben gute Läufe spielen, es galt einen Ruf zu verteidigen. Christoph beendete sein Solo mit einem Nicken zu Stefan, der auch so gewusst hätte, dass er an der Reihe ist. Er spielte Herbie Hancocks Solo mehr oder weniger nach und verspielte sich nur selten. Routinequalität. Lange, kantige Glieder in Jeans und weißem Hemd. Wie eine Marionette über das Klavier geklappt. Nase passend: eckiger Zinken. Dann wieder die Strophe, auf Christophs Kommando hin. Die Jungs hätten auch im Proberaum sein können. Christoph bedeutete Steve, dass er dran war. Basssolo. Hopsendes Brummen, lustiger Melonenmann. Dann kamen die Fours. Schlagzeug, Saxofon, Schlagzeug, Piano, Schlagzeug, Bass und dann das ganze von vorn. Noch mal Strophe und aus. Sie ließen sich schon wieder Zeit bis zum nächsten Stück. Resa brachte Bier und Schnaps für die Amis. Vierte Runde. Baseballkappen und Poloshirts. Jetzt wurde doch noch ihre Sexiness bemerkt. Und kommentiert. „Shut the fuck up or I´ll kick your asses out of this place.“ Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher des Amitischs aus und sie verstummten. Jeder der vier konnte sich vorstellen, wie sein Gesicht unter ihrem Absatz zigarettenfilterartig zerquetscht wurde. 
Und dann kam einer rein, der fiel auf. 
Ein alter Schwarzer. Im Anzug, graue Wolle, Hemd in der Farbe von Zahnpastawerbung, Krawatte dunkle Seide. Hut auf dem Kopf, Trenchcoat. Saxofonköfferchen in der Hand. Voll das Klischee, der Typ. Ein feiner alter Jazzer. Bluenote-Bildband Fleisch geworden. Umständlich setzte er sich auf einen Stuhl, ganz nah an der Bühne. Die Jungs spielten weiter, Night in Tunisia. Alter Mann sah etwas zu und sein Fuß wippte und das Gebiss wackelte im Takt und zeigte, dass Musik im Blut war. Resa kam zu ihm und was er sagte, veranlasste sie nicht zu Drohungen, sondern zu einem Schelmenlächeln. Sie brachte ihm Cola.
Die vier auf der Bühne weiter mit dem Standardprogramm. Gleiche Reihenfolge der Soli, wieder die Fours am Schluss. Nur Christoph jetzt noch offensiver in seiner Leaderrolle, dauernd Nicken und kleine Gesten mit dem Sax. Der Alte hatte es ihm angetan, der sollte wissen, wer Christoph war. Aber der Greis sah kaum hin, nur das Fußwippen bewies, dass die Musik bei ihm ankam. Er hatte Papiere aus seinem Köfferchen geholt und blätterete darin. Rechnungen oder Noten. Resa saß jetzt auf einem Barhocker, den Oberkörper halb über den Tresen gehängt, und schrieb etwas in ein Tagebuch. Mit der anderen Hand stützte sie den Kopf, eine Zigarette zwischen den Fingern bedrohlich nah am zerzausten Haar.
Als das Stück fertig war, stand der Schwarze auf und ging an die Bühne.
„Can I play with you?“, fragte er heiser. Eindeutiger Verstoß gegen die Etikette, denn die Jam-Session war erst später und jetzt spielte das Quartett, das Christoph-Quartett. Aber heute war sowieso kein normaler Abend und offenbar traute sich Christoph bei einem Schwarzen nicht, nein zu sagen. 
„No problem, come up“, sagte er. 
Der Alte holte sein Saxofon und erklomm mühsam die Bühne. Christoph sah nur zu. Stefan stand auf, um zu helfen. Der Alte sah sich nach einem Sitz um und bekam einen Hocker.
„What will you play?“, fragte der Alte.
„What can you play, man?“, fragte Christoph. Der Alte hob nur die Brauen.
„Do you know on green dolphin street, man?“, fragte Christoph.
Der Alte grinste. Gebiss hemdfarben. „Yeah, I know that one. Let´s play.“
Christoph schnippte sich einen und los. Sie spielten das Thema und gleich war klar, dass der Alte was konnte. Ein weicher, voller Sound, fast schon Coleman-Hawkins-Schule, aber dann wieder einige Schärfen drin, die sich gewaschen hatten. Christoph nahm sich das erste Solo und legte gut vor. Silberbänder in der Luft, die das Leiter-Rutschbahnspiel spielten. Rauf, runter, Akkordtreppengetrappel. Der Alte unterstüzte ihn immer wieder mit Fill-Ins. Jedesmal zog Christoph die Brauen streng zusammen. Was wollte der Alte eigentlich. Christoph spielte soliden Bebop und endete mit einem spektakulären Stakkato. Dann nickte er dem Alten zu, ein bißchen zu aufmunternd. Doch da hatte der sich schon eingeschaltet. Und er meldete sich mit einem Ton zu Wort, scharf wie Sandpapier, zugleich mit einem Oberton, einem Vogelsang, einem klaren Zwitschern, das beinahe zweistimmig klang. Den Sound kannte man doch. Das hatte er doch von irgendeinem der Meister geklaut, von wem doch gleich. Wessen Trademark kopierte er da? Und dann legte er los und schleuderte Grooves heraus und Harmonieketten, dass die Wände wackelten. Das war nicht normal. Wenn es hier in der Region einen alten Sack gab, der so spielen konnte, wieso kannten sie ihn noch nicht? Das war höchstes Niveau. Der Alte hielt sich nicht mehr ans Tempo sondern wurde schneller und drückte der Rhythmusgruppe einen neuen Swing auf. Nahm sich einfach den Beat und zog ihn an.
Moment mal, Moment mal, dachten Rolfs Augen, zwischen empört und panisch. Steve hatte den Takt des Alten aufgegriffen, und nun war es der Drummer, der hinterher musste. Der Alte beendete sein Solo. Christoph vergaß, seine überflüssigen Kommandos zu verteilen. Aber Stefan setzte auch von sich aus mit dem Piano-Solo an. Er spielte brav und gut. Aber sobald er mal etwas Interessantes läuten ließ, verstärkte ihn der Alte mit Appreggios und sparte nicht daran, kleine Rhythmusfiguren einzustreuen, die den verschärften Swing in Gang hielten. Christoph versuchte mit ihm mitzuziehen, aber was er spielte, war jetzt erstickt und schwach. Der Alte spielte immer schrägere Sachen und zwang Stefan dadurch, Harmonien zu nutzen, die gar nicht vorgesehen waren. All die vorgefertigten Solofragmente verloren an Gültigkeit und Stefan haute einfach raus, was ihm in die Finger zuckte. Das Ganze hatte nicht mehr viel mit On Green Dolphin Street zu tun. 
Die Musiker am Stammtisch vergaßen die Coolness. Acht Augen gebannt auf die Bühne. Ein Mund offen. Ein anderer flüsternd an einem Ohr. Selbst ein besoffener Ami blickte immer wieder auf. Die anderen drei hatten nur noch glasige Murmeln im Kopf, da kam nichts mehr an. Stadium Horst. Resa stand kopfnickend direkt an der Bühne und war für Bestellungen taub.
In einer Trotzreaktion begann Christoph mit einem zweiten Solo. Der Alte wollte Avant-Garde? Sollte er Avant-Garde kriegen. Christoph packte alles aus, was er hatte. Er verließ die Harmoniegesetze und überblies die Töne. Er quietschte und knarrzte und machte Geräusche wie ein Pharoah-Sanders-Imitator. Er legte richtig was vor. Pech gehabt. Sollte er mal nicht denken, dass er da dem Alten was voraus hatte. Der fing erst an. Zweites Solo alter Mann. Spielte Hochgeschwindigkeitsläufe von Coltraneschen Ausmaßen. Teile, die wie Wasserfarben ineinander liefen. Keine Töne, nur noch Strudel aus Sound, die verschwammen, geronnen, Blasen warfen. Schreie, Sirenen, Melodiewasserfälle. Die Jungs waren platt. Münder offen, Stirnen gerunzelt. Der Staub unter den Stühlen bildete kleine Hurricans, die sich wie Feuerteufel umtanzten. Einer vom Musikantentisch war jetzt aufgestanden. Resa hingegen hatte sich gesetzt, an einen Tisch, und notierte im Turbotempo Dinge in ihr Buch - Inspirationskick. Sie vergaß sogar zu rauchen.
Und dann spielte Steve ein Basssolo jenseits aller Grenzen. Es lief und lief und lief, wie Jimmy Garrison live in Japan. Immer wieder gab es Yeahs von dem alten Mann. Steve wuchs über sich hinaus. Und wie die Tinte auf Resas linierten Seiten Berge und Täler und Kringel und Wellen formte, weiter floss, Punkte setzte, weiter floss und kritzelte, krakelte, über Unebenheiten aus Holzmehl und Leim kratzte, Gedanken hinter sich herziehend, an langer Leine, bis sie verloren gingen, Reime stapelnd, Worte türmend, eine Bugwelle von Ideen vor sich, Ideen die noch kommen wollten und die von neuen Worten überholt wurden, im Inspirationsfeuer, das nur raus musste, das Blau auf Weiß, Tinte auf Papier, von den Neuronen zur Wahrheit des geschriebenen Wortes werden musste, so rumpelte der Bass immer weiter und trieb über den turbulenten Green-Dolphin-Fluss. 
Und schließlich war der Bass fertig und es kamen wieder die Fours. Resa ließ den verwschwitzten Stift fallen und zündete sich Eine an. Die Fours. Schlagzeugbreak, Solist… Aber was geschah? Rolf spielte weiter. Über die Breaks hinweg. Der Alte feuerte ihn an. Christophs und Stefans Versuche, die Strophe wieder zu spielen, verhallten, abgebrochen, weil der Alte Rolf mit Saxofonstößen zu einem Solo trieb, das sich gewaschen hatte. Rolf schrie über die Toms hinweg, die Augen gechlossen, den Kopf im Nacken. So etwas war noch nie geschehen. Rolf, der am liebsten mit Besen spielte. Rolf, der seine Sticks in einem Aktenkoffer transportierte. Rolf, der täglich die Schuhe putzte und nie ein Solo spielte. Schlagzeug ist kein Soloinstrument. Dieser Rolf schnarrte auf der Snare, polterte über die Tomtoms, ließ Becken krachen und hielt trotzdem den Beat. Pistolenschüsse die Snare. Chinaböller die Toms. Ein Fauchen, ein Schrei nach Freiheit, ein wildes Tier ohne Käfig.
Und während er immer weiter wirbelte, griff der Alte die Melodie wieder auf, führte sie alle zusammen zurück zum Refrain und unisono swingten sie die Delphinstraße entlang. Eine Coda und schließlich Ende. Sie hatten eine Dreiviertelstunde gespielt. Die Jungs schwitzten. Sie atmeten schwer. Sie sahen sich aus weiten Augen an. Christoph gab Zigaretten aus. Schweigend, wie Bergsteiger, die am Gipfel wortlos ihre Vesper teilen. Resa eilte zur Theke und zapfte. Sechs große Bier. Christoph-Quartett, alter Mann, Resa. 
Der Alte packte sein Saxofon ein. „Sorry guys“, sagte er. „I was just looking for a quiet place to play a little. Just some warmup for tomorrow. I´m in town for a recording, you know? Sorry guys, I shoulda told you. My name is Archie Shepp.“

Dienstag, 5. Februar 2013

Vom Flachmann für Penner: Gruppensex im Altersheim

Gruppensex im Altersheim

Voller Sorge bemerkte mein Großvater neulich Blut im Stuhl. Seitdem ist ihm vor jedem Gang bang. 

Vom Flachmann für Penner: X für ein O


X für ein O

Seit der Einführung des Rauchverbotes in Gaststätten sieht man an jeder zweiten Ecke eine "Raucherlounge". Im Interesse der Gesundheitserziehung verspüre ich ja stets den Drang, das „O“ durchzustreichen. 

Mittwoch, 7. November 2012

9Komma81




Zwei Drittel sind gelb. Die anderen schwarz, silbern, grau. Und hier Schwarzweiße, mit blau-rotem Glitzern. Die Gelben blöken bei jeder Bewegung. Sie kriechen wie Lava, verklumpen, umfließen sich. Stillstand hier, Krauchen da, dann kurzes Rasen und wieder Stehen. Weiße und graue Quadrate, rechteckige Puzzleteile, verkantet, verschachtelt, gestapelt, gekippt. Flächen mit Kreisen und Höhlen, spitzenbewehrt. Geriffelte Schrägen, schwarze Kästen und Tunnelöffnungen, von Seesternen versperrt. 
Gerade hier unten wuselt es, zwischen dem Glitzern und Blinken. Wie kann es so bunte Muster geben, in einer asphaltfarbenen Welt? Wie die Bücher, die man anstarrt, bis Hologramme wachsen. Wie die Poster in Wohnungen, auf deren Dachgärten Cannabis gepflanzt wird. Wie die mikroskopischen Fotos von Zyten und Phagen und Blasten. Methylenblau. Eosinrot. Safraningelb. 
Ein Betonfluss mit Kristallen und dahinter, verspiegelt, Hände, die auf Münder schlagen, und aufgerissene Augen. Ein Strom aus Stein. Zerfließt zu grauen Schlieren. Betonniagara. Luft wie aus Wasserwerfen. Pfeifende Winde, die Staubnadeln tragen. 
Aber unten das gelbe Gewimmel. Und in jedem ein Mensch. Und jeder will irgendwo hin und ist dafür zu zahlen bereit. Das gelbe Blech umhüllt wärmendes Leder, die Heizung läuft, der Fahrer grüßt. Wer ein Taxi nimmt, hat ein Ziel. Wer ein Ziel hat, will leben. Stecknadelköpfe krabbeln durch den Stau. Ein Feuerwehrwagen teilt das Meer. Blau-rote Lichter verschmelzen.
Das Dach des Empire-State-Buildings ist mit einem Zaun geschützt. Ein Bolzenschneider lässt sich im Rucksack verstecken. 
Bäume machen grüne Filzkugeln aus ihren Wipfeln. Eine Schlange aus Menschenkieseln wartet auf Einlass. Ein Fahrrad hat sich als Büroklammer verkleidet und schlängelt sich hindurch. Der Bus ist ein weißer Riegel, wie ein Plastikteil auf Irrfahrt im Meer. Sonnenschirme sind Warzen, auf der faltigen Haut dieser Stadt. Das Hupen der Taxis stößt durch das Tosen. Bei jedem Spurwechsel, bei jeder Bewegung. Es liegt wie Konfetti über dem Brummen der Stadt. Die Taxis sprechen ein Morsealphabet. Menschen können es nicht verstehen.
Im rot-blauen Warnlicht ist man bemüht. Ein Stehen und Starren, ein Rennen und Holen, Funken, Winken, Parken. Mehr Autos, schwarz-weiß, Polizei. Mehr Feuerwehr, mehr Masse, mehr Mensch. Wollen sie ein Wasserbecken aus Blech und Uniformen bilden? Wollen sie ein Sprungtuch aus Blaulicht und Absperrband weben? 
Ein Muster aus Würfeln, gewunden und gestaut. Zwei Drittel sind gelb, der Rest schwarz, silbern, grau. Da mal ein blaues Auto, ein grüner Müllwagen dort. Eine Kette aus Blech. Eine Kolonie kriechender Wespen, gelb mit schwarzen Streifen, die weiße Laster und schwarze Limousinen mit sich schwemmt. Ein Setzkasten aus Dächern, Lüftungen und Schornsteinen. Da türmen sich Terrassen, Turbinen und Schächte und Spalten und Kies und schneeweiße Flächen, von Sonne gebleicht. Dazwischen grüne Tupfer aus Baum. Das ist schön.
Der Bolzenschneider fällt schneller als ich. Ist das überhaupt physikalisch korrekt? Neun Komma acht eins Meter pro Sekunde Quadrat. In einer Sekunde schlage ich auf.

Sonntag, 20. Mai 2012

Aus der Reihe Montagsjazz: Little Redhead


Heute waren die Amis los. Ein seltenes Ereignis. Die Wahnsinnigen. Die müssen eine Sondereinheit für Wahnsinnige haben. Oder vielleicht waren die längst frühberentet und nicht mehr im Dienst und hatten den Flug verpasst, zurück in die Heimat. Erst mal der General. Hustete wie immer ohne den Hauch von Anstand in sein Saxofon. Wenn es je einen Menschen gab, dem alles egal war, dann war es der General. Fehler? Fehlzeige. Keine Chance, dass ihn das juckte. Er spielte sein Zeug runter, wie ihm die Schnauze gewachsen war. Ich glaube, der hatte alles gesehen. Von den verrückten Amis war er der einzige Weiße. Blaue Augen quollen wie Quallen aus seinem schiefen Schädel. Ob er ein General war, keine Ahnung. Vielleicht war er auch Hausmeister.
In seinem Blick: Entrückte Eleganz. Die Eleganz von verbeulten Panzern. Die Eleganz von schlammverschmierten Stiefeln, die seit Vietnam nicht mehr geputzt worden waren. Wer im Schützengraben morgens die Handgranate zündet, dann daran sein Ei aufschlägt, um sie schließlich über die Schulter zu werfen, wer sich mit dem Rambomessser die Fußnägel schneidet, wer beim Dosenstechen das Loch mit der Luger in die Dose schießt, den jucken die Angebereien der Musikstudenten wenig. Wie sie die Rituale der großen Jazzer kopieren. Wie sie lässig ihre Kippen rauchen und zwischendurch verstohlen auf ihre Noten gucken, weil sie kein Solo aus dem Bauch heraus spielen können. Nein, den General juckt das nicht. Der spielt sich das Napalm aus der Seele. Der hört nur auf zu zittern, wenn das Saxofon seine Finger massiert. Der muss husten, wenn er nicht bläst. Während seine Kameraden noch versuchen, dem Song zu folgen und die Studenten an Bass und Piano verzweifelt Röntgenblicke auf ihre Songbooks schießen, spielt er einfach über alles weg. Die Harmonien fühlt er, irgendwie passt es. Oder auch nicht. Ist alles egal.
Die anderen zwei, das sind John und John. John sitzt am Schlagzeug. 150 Kilo schwarze Masse. Schwarze Materie. Und wo beim General nervöses Elmsfeuer hinter den Augen sitzt, die vage Gefahr, dass er aus seinem Saxofonkoffer ein Maschinengewehr holt und alles niedermäht, da ist bei John nur Pachydermenruhe. Ein stiller Humor, ein knappes Lächeln und ein Beat wie ein Herz. Das Herz weiß stets wie es schlagen muss und wenn du die Treppe hoch rennst, wird es schneller. So wird auch John schneller und langsamer, wie die Musik es braucht und die Studenten gucken blöd. Er feuert den General an, wenn er will und er schafft den Spagat, für die lokalen Jungs die Songstruktur zu halten und zugleich durch des Generals Spiel zu manövrieren.
John der Zweite ist auch viel zu alt um noch zu dienen - was machen die Jungs noch hier? Hager und groß. Afroschädel, Koteletten, Augenringe bis zum Kinn, Schnaps im Blut. Eine Schicht aus Mehltau ziert seine Kleider. John der Zweite singt. Wenn blonde Mädchen kommen und Schubidu hauchen, dann ist das schlimm. Wenn John singt, dann ist das gut. Er schreit Textfetzen wie James Brown. Ein Wort ist ein Akkord. Er erforscht es, bis er es von allen Seiten durchgenudelt hat, bis die Konsonanten klacken und die Vokale in Tremoli durch seine Zähne gerauscht sind. Was Coltrane mit Akkorden macht, macht John mit Worten. Und in einer in tausend Kriegseinsätzen mit Johnny dem Ersten geschulten Einheit feuert er seine Silben ab, schießt Salven zwischen das Sperrfeuer der Drums, dass der Funk brennt und die Leiber zucken.
Und die armen Musikstudenten, was sollen sie davon halten? Sie spüren, dass das authentisch ist. Sie spüren den groove. Und überhaupt, das sind Amis und vor Amis kriecht man respektvoll am Boden. Zu Amis sagt man: hey man! und spricht seinen Vornamen englisch aus. Aber diese Amis durchbrechen ihre Angeberregeln und sie halten sich nicht an Solozeiten und sie zeigen keinen Respekt vor den ranghöchsten Saxofonangebern, die in den Pausen immer ihr Halsband tragen, falls einer noch nicht gesehen hat, dass sie Hornbläser sind. Aber die Zuschauer stört das nicht, die wollen heiße Musik und heiße Musik wird geliefert.
Die Studentenstatisten wechseln, ein weißhemdiger Trompetenheini kommt und geht, der Bassmann wird älter. Am Rand steht einer, der mir auffällt, durch seine Unscheinbarkeit. Nie gesehen, den Typen. Kleiner, rothaariger Junge. Bisschen rundlich, bisschen blass. Mathematikstudentenaura. Warum fällt er mir auf? Er nickt im Takt und hört genauer zu, als die anderen. Er ist absorbiert, in der Musik. Mehr als einer sein dürfte, der seine Briefmarkensammlung digitalisiert.
Jetzt wieder Szenenwechsel. Christian unser Alphatier am Saxofon, neben dem General. Seidenhemd, blödes Bärtchen. Uih, der zeigt dem jetzt, wo es lang geht, unser Christian. Der wechselt jetzt gekonnt zwischen Melodielinie und Improvisation und dann streut er ein paar nette Dinger ein und dann spielt er sein Solo kunstfertig und schnell. John der Zweite nickt und ruft: Yeah! Denn was der Christian spielt ist nicht schlecht und es würde ihm nie einfallen, den weißen Bengel für seine Angeberei abzustrafen. Wenn gut gespielt wird, wird Yeah gerufen, denn die Musik zählt. Hierarchie haben die bei der Army genug.
Es ist brechend voll jetzt. Und die drei Amis machen auf der Bühne einfach keinen Platz. Jeder, der was zeigen will, muss zur Audienz zu ihnen und Schlagzeuger sind heute einfach nicht dran. Versuch mal hundertfünfzig Kilo vom Hocker zu schieben. So ziemlich jeder hat jetzt schon gezeigt, was er kann und sein Lichtlein entscheffelt. Jeder will mal give me five machen und hey man sagen. Heute sind die Amis da, heute muss man hoch auf die Bühne.
Der General beugt sich runter. Was gibt's? Er redet mit dem little redhead. Klein und dick und sommersprossig und halb so alt wie die Dienstjahre auf des Generals Konto. Was will der wohl? Nicken seitens des Generals und er ruft über die Schulter: Lester leaps in. Ach, und der Junge hat ein Köfferchen und das ist ein Saxofonkasten? Wie, will der spielen? Der ist noch nie hier gewesen. Was traut der sich? Er kommt hoch auf die Bühne. Ein glänzend poliertes Horn, nagelneu, gerade gekauft. Frisch angefangen zu lernen oder was? Erstsemester Musikschule? Nimm dich in Acht. Meisterbläser Christian ist auch dabei, so dass sie jetzt einen Triple-Saxofonsatz haben und da sind wir ja mal gespannt.
Lester Leaps in ertönt und der General bricht schon nach der dritten Note aus dem schönen Unisono aus und salpetert irgendwelche Eskapaden dazwischen. Christian will den Leader geben und phrasiert mutig um. Aber der Ton von dem Kleinen ist lauter. Und klarer. Und schwerer. Und größer. Hat der da irgendeinen Verstärker dran? Mit was für einem Volumen besetzt der hier den Raum? Noch die hintersten Ecken vibrieren von seinem Ton.
Nach zwei, drei Repeats gehen sie gleich in die vollen und Christian legt sein Solo vor. Der General unterbricht ihn an den absurdesten Stellen, aber egal. Christian will den Kleinen fertig machen, das wird schnell klar. Er macht große Lagensprünge und wirft schräge Noten um sich. Er ist warmgespielt und macht ganz schöne Hasenläufe. Hakenschlagen und Turbofüßchen, schnell, schnell, schnell. Das ist schon ordentlich. Das wird schwer, da mitzuhalten. Jetzt sind wir mal gespannt.
Peng. Der erste Ton fegt alles weg. Was macht der Kleine da? Diesen ersten Ton hält er schon mal ungefähr drei Minuten und man fragt sich, ob er da einen Blasebalg angeschlossen hat oder wo die ganze Luft herkommt. Was ein Statement. Hier bin ich. Dieser Dauerton ist laut und scharf und vibriert, wie er es will. Er vibriert im gottverdammten Takt. Und dann schleudert er die ersten Läufe ins Publikum. Hoch und runter und unter Verwendung jeder erdenklichen Harmonielehre. Was macht er da überhaupt? Er spielt ein Highspeedgewitter, Dauerfeuer aus einer Rotationskanone, zwölf Zylinder Super plus. Aber vor allem groovt er. Der klingt wie eine Mischung aus Michael Brecker und Bill Evans. Vollkommen funky plus dreidimensionale Graffittis. Jede Note dient dem Groove und nicht irgendeiner Nicklichkeit. Wenn es gerade passt, dann bläßt er eine Bluenote über fünf Takte. Der Anfang war noch nichts, dieser Mensch muss nicht atmen. Er hält den Ton, während der Beat unter ihm explodiert. Mit einer Gelassenheit und Beiläufigkeit, die Angst macht. Was ist das? Was zum Teufel ist das? Sein Horn glänzt so, dass ich sein Gesicht nicht sehe. Mit einem letzten omnipräsenten Dauerton beendet er sein Solo. Nach dem Stück verlässt er die Bühne und steht wieder mit hängenden Schultern am Rand. Nie war ein besserer Saxofonist in diesen Räumen. Und nie habe ich den kleinen Redhead wieder gesehen. Wahrscheinlich spielt er sonst nur in Montreux.